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Autismus neu gedacht: Wie sensorische Reizverarbeitung Verhaltensmuster prägt

Eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung


Das Rätsel des Autismus-Spektrums

Autismus wird oft als “Spektrum” beschrieben – ein Begriff, der Vielfalt suggeriert, aber wenig erklärt. Warum zeigen manche Menschen soziale Rückzugstendenzen, andere Sprachbesonderheiten, wieder andere intensive Spezialinteressen? Die gängige Diagnostik sammelt diese Symptome wie Puzzleteile ohne Bildvorlage. Doch was, wenn alle diese Verhaltensweisen Folgen einer gemeinsamen Ursache sind?


Die unterschätzte Hauptrolle: Unsere Sinne

Die revolutionäre These:

Viele “autistische” Verhaltensmuster sind keine Störungen an sich, sondern clevere Anpassungsstrategien an eine anders funktionierende sensorische Wahrnehmung.

Stellen Sie sich vor:

Für viele Autist:innen ist dies Alltagsrealität. Ihr Nervensystem verarbeitet Reize anders – manche werden verstärkt, andere gefiltert, manche Sinneskanäle sind überempfindlich, andere unterempfindlich.


Vom Reiz zur Reaktion: Wie Verhaltensmuster entstehen

Aus dieser sensorischen Besonderheit entstehen logische Überlebensstrategien:

Verhalten Mögliche Ursache Beispiel
Sozialer Rückzug Schutz vor Reizüberflutung in Gruppen Kind verlässt die laute Schulfeier
Sprachvermeidung Energieersparnis bei auditiver Überlastung Nonverbale Kommunikation per Tablet
Repetitive Bewegungen Selbstberuhigung durch kontrollierte Reize (Stimming) Händeflattern, Summen, Rhythmik
Spezialinteressen Fokus auf vorhersehbare, sichere Reizwelten Obsessive Kenntnis von Zugfahrplänen

Der diagnostische Irrtum: Symptome ≠ Ursache

Aktuell lautet die Diagnoselogik:
“Wenn jemand sozialen Rückzug + repetitive Bewegungen zeigt = Autismus”

Doch dieses Vorgehen hat drei Probleme:

  1. Ähnliche Symptome, unterschiedliche Ursachen: Sozialer Rückzug kann durch sensorische Überlastung ODER soziale Ängste entstehen
  2. Individuelle Profile: Keine zwei Menschen haben dasselbe sensorische Reizmuster
  3. Umwelt-Einfluss: Dieselbe Person zeigt in reizarmer Umgebung kaum “Symptome”

“Autismus” ist somit kein festes “Wesen”, sondern ein Notfallplan des Gehirns für den Umgang mit einer reizintensiven Welt.


Was folgt daraus? Neue Wege für Therapie & Forschung

Forschung sollte:

Therapie sollte:

Eine Jugendliche beschreibt es so:

“Als ich meine sensorischen Trigger verstand, wurde mein Verhalten für andere plötzlich logisch. Ich muss mich nicht mehr ‘erklären’ – wir gestalten jetzt gemeinsam meinen Raum.”


Das neue Modell: Fünf Dimensionen statt eines Labels

Autismus lässt sich nicht auf eine Ursache reduzieren. Entscheidend ist das Zusammenspiel von:

  1. Sensorisches Profil (Wo/wie stark weicht Reizverarbeitung ab?)
  2. Neurochemie (Wie modulieren Hormone/Botenstoffe die Reaktion?)
  3. Umwelt (Welche Reize setzt das Umfeld?)
  4. Kognitive Werkzeuge (Wie wird die Erfahrung reflektiert?)
  5. Bewältigungsstrategien (Welche Techniken haben sich bewährt?)

Die große Frage an unsere Gesellschaft

“Wie viele Arten zu fühlen und wahrnehmen haben Platz in unserer Welt?”

Statt Menschen in Schubladen zu drängen, sollten wir fragen:
“Welche Bedingungen brauchst du, um dich sicher und leistungsfähig zu fühlen?”


Fazit: Vom Defizit- zum Differenzmodell

Autismus ist keine Störung, die wir “reparieren” müssen. Er ist eine andere Art der Weltwahrnehmung, die:

Wie Temple Grandin, Autistin und Professorin, sagt:

“Die Welt braucht verschiedene Denker: Die Künstler, die Mustererkennung, die Detailverliebten.”

Indem wir sensorische Unterschiede ernst nehmen, wandeln wir Therapie von Anpassung an Normen zur Kooperation zwischen Neurotypen.


Inspiriert von: Grandin, T. “Thinking in Pictures”; Bogdashina, O. “Sensory Perceptual Issues in Autism”
Dies ist eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung des ausführlichen wissenschaftlichen Originalpapiers.

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