Übersicht | 1. Einleitung | 2. Diagnostischer Nebel | 3. Sensorik als Schlüssel | 4. Emergente Muster | 5. Forschung & Therapie | 6. Neues Modell | 7. Schluss |
Autismus wird gemeinhin als „Spektrum” bezeichnet. Das klingt differenziert und modern – suggeriert aber oft mehr Klarheit, als tatsächlich vorhanden ist. Der Begriff dient meist dazu, die enorme Bandbreite möglicher Ausprägungen zu umarmen, ohne sie wirklich erklären zu müssen. Doch was heißt es konkret, auf einem „Spektrum” zu liegen?
Oft wird suggeriert, dass alle Menschen irgendwo auf diesem Spektrum verortet seien – nur eben mit unterschiedlich stark ausgeprägten Merkmalen. Doch das ist eine begriffliche Verflachung. Nicht jeder introvertierte Mensch ist „ein bisschen autistisch”, so wie nicht jeder mit guter Beobachtungsgabe gleich hochbegabt ist. Es geht nicht um Charaktereigenschaften, sondern um ein Muster von Verhaltensweisen, das auf neurobiologischen Unterschieden basiert – und das sich qualitativ (nicht nur quantitativ) von sogenannten neurotypischen Verhaltensweisen unterscheidet.
Der zentrale Denkfehler besteht darin, Symptome mit Ursachen gleichzusetzen. Die medizinische Praxis klassifiziert Autismus derzeit rein phänomenologisch: Anhand von äußeren Merkmalen – etwa Sprachvermeidung, sozialer Rückzug, repetitive Bewegungen – wird eine Diagnose gestellt. Doch diese Symptome können aus völlig unterschiedlichen Gründen entstehen. Zwei Menschen können sich äußerlich ähnlich verhalten und dennoch ganz andere innere Ursachen haben. Umgekehrt können ähnliche sensorische Ursachen zu sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen führen.
So entsteht ein diagnostischer Nebel: Wir benennen ein Verhalten, tun aber so, als hätten wir damit seine Ursache erkannt. Dadurch geraten Menschen mit sehr unterschiedlichen neurobiologischen Voraussetzungen, Lebensrealitäten und Bedürfnissen unter dasselbe Label – mit entsprechend fragwürdigen Folgen für Forschung, Therapie und gesellschaftliche Wahrnehmung.
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