Übersicht | 1. Einleitung | 2. Diagnostischer Nebel | 3. Sensorik als Schlüssel | 4. Emergente Muster | 5. Forschung & Therapie | 6. Neues Modell | 7. Schluss |
Auch wenn sensorische Empfindlichkeit der gemeinsame Nenner sein mag – die Reaktion darauf ist keineswegs einheitlich. Selbst bei sehr ähnlichen Reizprofilen entwickeln Menschen völlig unterschiedliche Umgangsweisen: Der eine zieht sich zurück, der andere wird aggressiv. Die eine ritualisiert ihren Tagesablauf, der andere entwickelt Fixationen auf kontrollierbare Inhalte. Warum?
Die Antwort liegt in der Emergenz: Verhalten ist nicht direkt ableitbar aus einem Input (z. B. hoher Reizpegel), sondern entsteht durch das Zusammenspiel mit anderen Systemfaktoren:
All diese Faktoren wirken wie Filter, Verstärker oder Dämpfer – sie formen aus derselben Ausgangslage unterschiedliche Pfade. Trotzdem fällt auf: Die „autistischen” Reaktionsmuster ähneln sich oft stark. Und das ist eigentlich erstaunlich.
Warum ist das so? Zwei Hypothesen:
Es gibt evolutionär robuste Standardstrategien, wie man mit Reizüberlastung umgehen kann – etwa Rückzug, Reizkontrolle, Wiederholung. Diese Strategien setzen sich unabhängig voneinander durch, weil sie funktional sind.
Die soziale Umwelt erzwingt Selektion: Nur bestimmte Verhaltensweisen sind toleriert oder überlebensfähig. Wer z. B. seine Reizempfindlichkeit durch offene Reizvermeidung reguliert, wird sozial ausgegrenzt – während der „stille Rückzug” als stilles Leid bleibt und damit weniger auffällt.
So entsteht ein Bild von Autismus, das uns systematisch täuscht: Die beobachtete Ähnlichkeit ist nicht die Folge gleicher Persönlichkeiten, sondern die Folge ähnlicher Anpassungslogik in einem begrenzten Raum möglicher Lösungen.
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