Übersicht | 1. Einleitung | 2. Diagnostischer Nebel | 3. Sensorik als Schlüssel | 4. Emergente Muster | 5. Forschung & Therapie | 6. Neues Modell | 7. Schluss |
Dieses Papier ist kein Manifest, keine Theorie mit Absolutheitsanspruch – sondern ein Denkangebot. Es schlägt vor, Autismus nicht als starre Diagnose, sondern als emergentes Phänomen zu betrachten: als Muster, das aus der Wechselwirkung von sensorischer Wahrnehmung, neurochemischer Modulation, individueller Prägung und Umweltbedingungen entsteht.
Der Begriff „Autismus” hat vielen Menschen geholfen, sich selbst besser zu verstehen oder überhaupt gesehen zu werden. Doch er hat auch viele in Schubladen gesperrt, Therapien normiert, Erwartungen erzeugt. Was fehlt, ist ein Modell, das zugleich differenziert und verständlich ist, das auf Ursachen statt Symptomen zielt – und das den Menschen in seiner Wahrnehmungslogik ernst nimmt.
Wir plädieren nicht für eine neue Etikette, sondern für eine neue epistemische Bescheidenheit: den Mut zu sagen, dass wir es mit einem vielschichtigen System zu tun haben – nicht mit einem Störungsbild, das sich diagnostisch „lösen” lässt.
Vielleicht ist es an der Zeit, von einem anderen Bild auszugehen:
Autistisches Verhalten ist nicht das Ergebnis eines Defizits – sondern eine kompetente Reaktion auf eine überfordernde, schlecht passende Welt. Und diese Reaktion verdient kein „Training”, sondern Verständnis, Kontextanpassung und dialogische Unterstützung.
Die Forschung ist eingeladen, nicht noch feinere Symptomlisten zu erstellen, sondern sich den Ursachenräumen zuzuwenden: Sensorik, Hormone, Stressachsen, Entwicklungsmilieus. Und die Gesellschaft ist eingeladen, nicht weiter in den Kategorien „normal” und „auffällig” zu denken – sondern zu fragen: Wie viele unterschiedliche Wahrnehmungsweisen kann eine Welt aushalten, ohne Menschen zu verlieren?
Dann ist das gut. Denn das Ziel ist nicht, das letzte Wort zu sprechen, sondern das Denken in Bewegung zu bringen. Ein Modell ist nicht richtig oder falsch – es ist brauchbar oder unbrauchbar. Und wir glauben: Dieses Modell hat das Potenzial, mehr zu erklären, mehr zu verbinden und mehr zu ermöglichen.
Wir freuen uns über Kritik, Ergänzungen, Erfahrungen, Einwürfe. Nicht, weil wir angegriffen werden wollen – sondern weil wir in den Austausch kommen möchten. Ein besseres Verständnis ist kein Ziel – es ist ein Prozess.
Wenn wir Reizverarbeitung als zentrale Achse menschlichen Verhaltens verstehen, ergibt sich ein leiser, aber weitreichender Perspektivwechsel.
Autismus wird nicht erkannt, weil ein Mensch anders fühlt – sondern weil seine Reaktionen auf diese Welt nicht reibungslos funktionieren. Das heißt auch: Die Diagnose entsteht nicht aus dem Gehirn allein, sondern aus dem Zusammenstoß zwischen Innenwelt und Umwelt. Was wir „Störung” nennen, ist oft nur die Sichtbarkeit eines Systems, das in einer bestimmten Umgebung nicht zur Ruhe kommt.
In diesem Licht ist die Grenze zwischen „neurotypisch” und „autistisch” erstaunlich weich. Viele Menschen zeigen ähnliche sensorische Besonderheiten – doch solange sie nicht stören, gelten sie als Temperament oder Eigenart. Die sichtbare Abweichung beginnt dort, wo das System in Stress gerät – nicht früher.
Und wenn Reizverarbeitung tatsächlich so zentral ist, dann könnten viele andere Phänomene ebenfalls auf dieser Achse liegen – ADHS, Hochsensibilität, Burnout, Angststörungen. Nicht als Teil desselben Spektrums, sondern als verwandte Resonanzphänomene eines überreizten Systems.
Wir plädieren also nicht dafür, alles unter einen Begriff zu packen – sondern dafür, ein gemeinsames Modell zu prüfen: Ein Modell, das Reizverarbeitung als das Fundament versteht, aus dem Verhalten, Anpassung, Stress und letztlich auch Leiden emergieren.
Vielleicht ist das der nächste Schritt – raus aus den Schubladen, rein in die Systemanalyse des Menschseins.
Dieses Papier entstand im Dialog zwischen einem systemisch denkenden Ingenieur und einem KI-basierten Schreibassistenten. Es versteht sich als Beitrag zur Versachlichung und Neuorientierung im Umgang mit neurodivergentem Verhalten – offen für Kritik, Ergänzung und Weiterentwicklung.
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