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Ein multidimensionales Modell zur Erklärung autistischer Verhaltensmuster auf Basis sensorischer Verarbeitung

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Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung: Warum wir über Autismus neu nachdenken müssen
  2. Der diagnostische Nebel: Symptomtopf statt Ursache
  3. Sensorik als zentraler Schlüssel: Die unterschätzte Primärdimension
  4. Emergente Reaktionsmuster: Wenn gleiche Ursachen verschieden wirken
  5. Konsequenzen für Forschung und Therapie: Vom Training zur Verständigung
  6. Schluss: Einladung zu einem neuen Blick

Vollständiges Dokument

Kurzfassung

Dieses Papier hinterfragt die gängige Diagnostik von Autismus als symptombasiertes Störungsbild und schlägt stattdessen ein systemisch-sensorisches Modell vor. Es argumentiert, dass viele autistische Verhaltensweisen – etwa sozialer Rückzug, Sprachvermeidung oder repetitive Muster – als sekundäre Strategien im Umgang mit sensorischer Reizverarbeitung zu verstehen sind. Die Diagnoseschwelle entsteht demnach nicht durch das Vorhandensein bestimmter Eigenschaften, sondern durch die Kollision individueller Reizprofile mit gesellschaftlichen Anforderungen. Daraus ergibt sich ein differenzierter, mehrdimensionaler Zugang zur Erklärung, Klassifikation und Unterstützung neurodivergenter Menschen.

1. Einleitung: Warum wir über Autismus neu nachdenken müssen

Autismus ist ein Begriff, der zugleich vertraut und erstaunlich vage geblieben ist. Er suggeriert Klarheit, Spezifik, ein bekanntes Krankheitsbild – und ist doch in Wirklichkeit ein Sammelbecken unterschiedlichster Phänomene, die mehr durch äußere Beobachtung als durch innere Logik verbunden sind. Wer sich tiefer mit dem Thema beschäftigt, stößt schnell auf ein irritierendes Nebeneinander: Einerseits klare Diagnosen, Fördermaßnahmen, öffentliche Diskurse. Andererseits eine verwirrende Vielfalt an Erscheinungsformen, Widersprüchen und individuellen Unterschieden, die sich kaum unter einen Hut bringen lassen.

In der gängigen medizinischen und psychologischen Praxis wird Autismus vor allem über Symptome definiert: Schwierigkeiten im sozialen Umgang, Sprachbesonderheiten, repetitive Verhaltensweisen, Spezialinteressen, sensorische Empfindlichkeiten. Doch was, wenn viele dieser Symptome gar nicht primär sind – sondern Reaktionen auf eine viel grundlegendere Ursache?

Dieses Papier schlägt vor, den Blick radikal umzulenken: Weg von der oberflächlichen Beschreibung, hin zu einem systemisch verstandenen Modell, das die sensorische Verarbeitung als zentrale Ursache ins Zentrum stellt. Reizempfindlichkeit – in all ihren Varianten – ist keine Nebensächlichkeit, sondern möglicherweise der Schlüssel zum Verständnis des Phänomens. Verhalten, das als „autistisch“ beschrieben wird, könnte sich dann als emergente Strategie im Umgang mit sensorischer Realität entpuppen.

Zugleich wäre zu akzeptieren, dass „Autismus“ kein einheitliches Syndrom ist, sondern eher ein Beobachtungsschirm für verschiedene Anpassungsformen an innere und äußere Bedingungen. Eine solche Perspektive würde nicht nur das wissenschaftliche Verständnis vertiefen, sondern auch zu individuelleren, respektvolleren und wirksameren Formen der Unterstützung führen.


2. Der diagnostische Nebel: Symptomtopf statt Ursache

Autismus wird gemeinhin als „Spektrum“ bezeichnet. Das klingt differenziert und modern – suggeriert aber oft mehr Klarheit, als tatsächlich vorhanden ist. Der Begriff dient meist dazu, die enorme Bandbreite möglicher Ausprägungen zu umarmen, ohne sie wirklich erklären zu müssen. Doch was heißt es konkret, auf einem „Spektrum“ zu liegen?

Oft wird suggeriert, dass alle Menschen irgendwo auf diesem Spektrum verortet seien – nur eben mit unterschiedlich stark ausgeprägten Merkmalen. Doch das ist eine begriffliche Verflachung. Nicht jeder introvertierte Mensch ist „ein bisschen autistisch“, so wie nicht jeder mit guter Beobachtungsgabe gleich hochbegabt ist. Es geht nicht um Charaktereigenschaften, sondern um ein Muster von Verhaltensweisen, das auf neurobiologischen Unterschieden basiert – und das sich qualitativ (nicht nur quantitativ) von sogenannten neurotypischen Verhaltensweisen unterscheidet.

Der zentrale Denkfehler besteht darin, Symptome mit Ursachen gleichzusetzen. Die medizinische Praxis klassifiziert Autismus derzeit rein phänomenologisch: Anhand von äußeren Merkmalen – etwa Sprachvermeidung, sozialer Rückzug, repetitive Bewegungen – wird eine Diagnose gestellt. Doch diese Symptome können aus völlig unterschiedlichen Gründen entstehen. Zwei Menschen können sich äußerlich ähnlich verhalten und dennoch ganz andere innere Ursachen haben. Umgekehrt können ähnliche sensorische Ursachen zu sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen führen.

So entsteht ein diagnostischer Nebel: Wir benennen ein Verhalten, tun aber so, als hätten wir damit seine Ursache erkannt. Dadurch geraten Menschen mit sehr unterschiedlichen neurobiologischen Voraussetzungen, Lebensrealitäten und Bedürfnissen unter dasselbe Label – mit entsprechend fragwürdigen Folgen für Forschung, Therapie und gesellschaftliche Wahrnehmung.


3. Sensorik als zentraler Schlüssel: Die unterschätzte Primärdimension

Was, wenn viele der Verhaltensweisen, die wir als „autistisch“ bezeichnen, keine Störung an sich sind, sondern logische Anpassungsreaktionen auf eine abweichende sensorische Innenwelt?

Die zentrale These dieses Papiers lautet:

Reizempfindlichkeit – ihre Ausprägung, Art und Verarbeitungsdynamik – ist keine Randerscheinung autistischer Phänomene, sondern ihre primäre Triebkraft.

Menschen mit autistischer Diagnose berichten häufig von einer Welt, die zu laut, zu hell, zu unübersichtlich oder schlichtweg zu intensiv ist. Es sind keine “Eigenheiten”, sondern existenziell spürbare Realitäten: Neonröhren, die brennen wie ein Schweißgerät. Stoffe, die sich anfühlen wie Schleifpapier. Geräusche, die für andere kaum wahrnehmbar sind, aber das Nervensystem in Alarmbereitschaft versetzen.

Diese sensorische Welt ist nicht nur anders – sie ist prägend. Denn aus ihr heraus entstehen viele der beobachtbaren Merkmale:

Hinzu kommt: Die Art der Reizempfindlichkeit variiert stark – und zwar in mehrfacher Hinsicht:

Diese Unterschiede sind nicht zufällig, sondern spiegeln unterschiedliche neuronale Sensitivitäten wider – möglicherweise genetisch oder hormonell vermittelt. Was dabei auffällt: Obwohl die sensorischen Profile sehr individuell sind, entstehen immer wieder ähnliche Verhaltensmuster, als gäbe es bestimmte „Standardantworten“ auf sensorische Überforderung.

Das legt den Gedanken nahe: Sensorische Empfindlichkeit erzeugt systematisch ähnliche Reaktionsmuster – nicht, weil die Menschen gleich sind, sondern weil das System Körper-Geist-Welt auf ähnliche Weise auf Überforderung reagiert. Und diese Reaktionsmuster sind es, die wir heute als „Autismus“ bezeichnen.


4. Emergente Reaktionsmuster: Wenn gleiche Ursachen verschieden wirken

Auch wenn sensorische Empfindlichkeit der gemeinsame Nenner sein mag – die Reaktion darauf ist keineswegs einheitlich. Selbst bei sehr ähnlichen Reizprofilen entwickeln Menschen völlig unterschiedliche Umgangsweisen: Der eine zieht sich zurück, der andere wird aggressiv. Die eine ritualisiert ihren Tagesablauf, der andere entwickelt Fixationen auf kontrollierbare Inhalte. Warum?

Die Antwort liegt in der Emergenz: Verhalten ist nicht direkt ableitbar aus einem Input (z. B. hoher Reizpegel), sondern entsteht durch das Zusammenspiel mit anderen Systemfaktoren:

All diese Faktoren wirken wie Filter, Verstärker oder Dämpfer – sie formen aus derselben Ausgangslage unterschiedliche Pfade. Trotzdem fällt auf: Die „autistischen“ Reaktionsmuster ähneln sich oft stark. Und das ist eigentlich erstaunlich.

Warum ist das so? Zwei Hypothesen:

  1. Es gibt evolutionär robuste Standardstrategien, wie man mit Reizüberlastung umgehen kann – etwa Rückzug, Reizkontrolle, Wiederholung. Diese Strategien setzen sich unabhängig voneinander durch, weil sie funktional sind.

  2. Die soziale Umwelt erzwingt Selektion: Nur bestimmte Verhaltensweisen sind toleriert oder überlebensfähig. Wer z. B. seine Reizempfindlichkeit durch offene Reizvermeidung reguliert, wird sozial ausgegrenzt – während der „stille Rückzug“ als stilles Leid bleibt und damit weniger auffällt.

So entsteht ein Bild von Autismus, das uns systematisch täuscht: Die beobachtete Ähnlichkeit ist nicht die Folge gleicher Persönlichkeiten, sondern die Folge ähnlicher Anpassungslogik in einem begrenzten Raum möglicher Lösungen.


5. Konsequenzen für Forschung und Therapie: Vom Training zur Verständigung

Wenn wir Autismus nicht mehr als eine fest umrissene Störung mit festen Symptomen betrachten, sondern als emergente Reaktionsweise auf sensorische und systemische Bedingungen, dann verschieben sich auch die Schwerpunkte von Forschung und Therapie.

🧪 In der Forschung:

Aktuell dominiert eine symptomorientierte Diagnostik, ergänzt durch genetische Studien, die oft ergebnisoffen bleiben. Was fehlt, ist ein gezielter, systemischer Zugang, der Fragen wie diese stellt:

Solche Fragen erfordern interdisziplinäre Forschung: Neurowissenschaft, Endokrinologie, Psychologie, Pädagogik und sogar Kybernetik müssten kooperieren. Was heute fehlt, ist ein übergeordnetes Funktionsmodell, das nicht Symptome klassifiziert, sondern das Zusammenspiel der beteiligten Ebenen kartiert.

🛠 In der Praxis:

Die heutige Praxis zielt oft auf Verhaltenstraining. Autistische Kinder lernen Blickkontakt, das Unterbrechen von Routinen oder „angemessenes“ Sozialverhalten. Doch wenn diese Verhaltensweisen Symptome eines tiefgreifenden Reizungleichgewichts sind, dann trainiert man an der Oberfläche herum – ohne die innere Realität zu verändern. Im schlimmsten Fall lernt das Kind nur, sich besser zu maskieren – auf Kosten seiner Energie, seines Wohlbefindens und seiner Identität.

Eine ursachenorientierte Unterstützung müsste anders ansetzen:

Diese Art der Hilfe ist nicht korrigierend, sondern verstehend. Sie zielt nicht auf Normalisierung, sondern auf Kooperation mit einer anderen Wahrnehmungsweise. Der Fokus verschiebt sich: vom Defizit zur Passung.


6. Skizze eines neuen Modells: Multidimensional statt monolithisch

Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich ein einfaches, aber weitreichendes Modell:

Autistisches Verhalten ist nicht das Resultat einer einzelnen Störung, sondern das Ergebnis eines Systems, in dem mehrere Dimensionen zusammenwirken.

Diese Dimensionen sind individuell verschieden, interagieren miteinander – und können dennoch typische Muster erzeugen, die wir derzeit unter dem Etikett „Autismus“ zusammenfassen.

🔄 Die fünf zentralen Dimensionen:

Dimension Funktion
1. Sensorisches Profil Welche Reize sind verstärkt oder abgeschwächt?
2. Neurochemie/Hormone Wie wird Reizinformation intern moduliert?
3. Umwelt & Sozialisation Welche Erfahrungen und Kontexte formen Verhalten?
4. Kognitive Ressourcen Wie wird Reizverarbeitung intellektuell begleitet?
5. Bewältigungsstrategien Welche Muster haben sich als wirksam erwiesen?

Ein solcher Rahmen erlaubt nicht nur differenziertere Diagnostik, sondern auch maßgeschneiderte Hilfen, die auf die tatsächlichen Bedarfe abgestimmt sind.

Zugleich bricht dieses Modell mit der Illusion, dass Autismus ein festes Wesen sei – und öffnet den Blick für das, was in Wirklichkeit geschieht: eine hochkomplexe Form der Anpassung an eine Welt, die nicht gemacht ist für eine bestimmte Art der Wahrnehmung.


7. Schluss: Einladung zu einem neuen Blick

Dieses Papier ist kein Manifest, keine Theorie mit Absolutheitsanspruch – sondern ein Denkangebot. Es schlägt vor, Autismus nicht als starre Diagnose, sondern als emergentes Phänomen zu betrachten: als Muster, das aus der Wechselwirkung von sensorischer Wahrnehmung, neurochemischer Modulation, individueller Prägung und Umweltbedingungen entsteht.

Der Begriff „Autismus“ hat vielen Menschen geholfen, sich selbst besser zu verstehen oder überhaupt gesehen zu werden. Doch er hat auch viele in Schubladen gesperrt, Therapien normiert, Erwartungen erzeugt. Was fehlt, ist ein Modell, das zugleich differenziert und verständlich ist, das auf Ursachen statt Symptomen zielt – und das den Menschen in seiner Wahrnehmungslogik ernst nimmt.

Wir plädieren nicht für eine neue Etikette, sondern für eine neue epistemische Bescheidenheit: den Mut zu sagen, dass wir es mit einem vielschichtigen System zu tun haben – nicht mit einem Störungsbild, das sich diagnostisch „lösen“ lässt.

Vielleicht ist es an der Zeit, von einem anderen Bild auszugehen:

Autistisches Verhalten ist nicht das Ergebnis eines Defizits – sondern eine kompetente Reaktion auf eine überfordernde, schlecht passende Welt. Und diese Reaktion verdient kein „Training“, sondern Verständnis, Kontextanpassung und dialogische Unterstützung.

Die Forschung ist eingeladen, nicht noch feinere Symptomlisten zu erstellen, sondern sich den Ursachenräumen zuzuwenden: Sensorik, Hormone, Stressachsen, Entwicklungsmilieus. Und die Gesellschaft ist eingeladen, nicht weiter in den Kategorien „normal“ und „auffällig“ zu denken – sondern zu fragen: Wie viele unterschiedliche Wahrnehmungsweisen kann eine Welt aushalten, ohne Menschen zu verlieren?


Epilog: Und wenn wir falsch liegen?

Dann ist das gut. Denn das Ziel ist nicht, das letzte Wort zu sprechen, sondern das Denken in Bewegung zu bringen. Ein Modell ist nicht richtig oder falsch – es ist brauchbar oder unbrauchbar. Und wir glauben: Dieses Modell hat das Potenzial, mehr zu erklären, mehr zu verbinden und mehr zu ermöglichen.

Wir freuen uns über Kritik, Ergänzungen, Erfahrungen, Einwürfe. Nicht, weil wir angegriffen werden wollen – sondern weil wir in den Austausch kommen möchten. Ein besseres Verständnis ist kein Ziel – es ist ein Prozess.


Nachsatz: Die Normalität ist nur ein Cluster

Wenn wir Reizverarbeitung als zentrale Achse menschlichen Verhaltens verstehen, ergibt sich ein leiser, aber weitreichender Perspektivwechsel.

Autismus wird nicht erkannt, weil ein Mensch anders fühlt – sondern weil seine Reaktionen auf diese Welt nicht reibungslos funktionieren. Das heißt auch: Die Diagnose entsteht nicht aus dem Gehirn allein, sondern aus dem Zusammenstoß zwischen Innenwelt und Umwelt. Was wir „Störung“ nennen, ist oft nur die Sichtbarkeit eines Systems, das in einer bestimmten Umgebung nicht zur Ruhe kommt.

In diesem Licht ist die Grenze zwischen „neurotypisch“ und „autistisch“ erstaunlich weich. Viele Menschen zeigen ähnliche sensorische Besonderheiten – doch solange sie nicht stören, gelten sie als Temperament oder Eigenart. Die sichtbare Abweichung beginnt dort, wo das System in Stress gerät – nicht früher.

Und wenn Reizverarbeitung tatsächlich so zentral ist, dann könnten viele andere Phänomene ebenfalls auf dieser Achse liegen – ADHS, Hochsensibilität, Burnout, Angststörungen. Nicht als Teil desselben Spektrums, sondern als verwandte Resonanzphänomene eines überreizten Systems.

Wir plädieren also nicht dafür, alles unter einen Begriff zu packen – sondern dafür, ein gemeinsames Modell zu prüfen: Ein Modell, das Reizverarbeitung als das Fundament versteht, aus dem Verhalten, Anpassung, Stress und letztlich auch Leiden emergieren.

Vielleicht ist das der nächste Schritt – raus aus den Schubladen, rein in die Systemanalyse des Menschseins.

Literaturhinweise


Ergänzende Ressourcen

Dieses Papier entstand im Dialog zwischen einem systemisch denkenden Ingenieur und einem KI-basierten Schreibassistenten. Es versteht sich als Beitrag zur Versachlichung und Neuorientierung im Umgang mit neurodivergentem Verhalten – offen für Kritik, Ergänzung und Weiterentwicklung.